Die Limmattaler Zeitung hat letzte Woche den Bogen geschlagen von der Aufklärung, die das Mittelalter beendete und die Grundlage für unseren heutigen Wohlstand schuf.

„Wilde Behauptungen bleiben wilde Behauptungen, auch wenn man sie mit dem Etikett «Querdenken» veredelt. Die Erosion der öffentlichen Vernunft“, schreibt Christoph Bopp so gut, dass wir den Text hier in ganzer Länge wiedergeben müssen.
«Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!» Das sei der Wahlspruch der Aufklärung, beschied der Philosoph Immanuel Kant 1784 in seiner populären Schrift «Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?». Wer könnte dagegen etwas einwenden?
Heute schon gar nicht mehr. Da beruft man sich schon nicht mehr nur auf die Freiheit des Denkens, sondern auch auf die Freiheit des Querdenkens. Man darf und soll denken, was man will. Oder anders gesagt: Nur das ist recht gedacht, das anders denkt, als man denken soll.
Das klingt schon so paradox, dass man es genauer analysieren muss. Kant empfiehlt den Gebrauch des eigenen Verstandes. Was er dabei meinte, war natürlich nicht die Willkür der persönlichen Meinung, sondern etwas anderes. Das Denken soll eben von Willkür befreien. Es arbeitet mit Begriffen und orientiert sich an der Vernunft. Die Vernunft ist gewissermassen das Organ oder das Auge der Menschheit. Sie prüft, ob etwas allgemein verträglich ist, ob es zum allgemeinen Wohl beiträgt oder Partikularinteressen dient.
Die Aufklärung hatte auch eine neue Vorstellung von Öffentlichkeit im Gefolge. Universitäten, aber auch Zeitungen und Zeitschriften schufen den öffentlichen Raum für Debatten und Erörterungen. Neue Ideen mussten sich der öffentlichen Debatte (und in Deutschland auch noch der Zensur) stellen. Aber das tat dem Bewusstsein, dass sich eine Bewegung hin zum Freieren und Besseren abspielte, wenig Abbruch. Im Licht der Vernunft hatten es die Mächte des Ancien Régime, Adel und Klerus, schwer, ihre Macht gegenüber den öffentlich geäusserten Ideen und Gedanken zu behalten.
Im 19. Jahrhundert kämpfte dieses Bewusstsein um die Realisierung. Leuchtendes Beispiel ist die Schweiz, welche ihre freiheitlich-demokratische Verfassung von 1848 beibehalten und sie durch Erweiterung der Volksbeteiligung auch auf eine breitere Basis stellen konnte. Für Europa war 1945 – das Ende des Zweiten Weltkriegs – der Anfang einer glänzenden Epoche: Nationalstaat, Demokratie und soziale Marktwirtschaft schienen die Garanten, dass es jeder Generation besser ging als ihren Eltern. Natürlich gab es Krisen. Aber neben der allgemeinen Verunsicherung, die wir jetzt erleben, war das, was der Philosoph Jürgen Habermas «Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus» nannte, klein.
Auch das kritischste Denken musste sich an dieser Realität abarbeiten. Es gab einen Konsens an Werten und Einstellungen, den man respektieren musste. Man vertraute der Vernunft, auch wenn man die aktuellen Zustände kritisierte. Entsprechen meine Gedanken dem Kriterium, dass alle prinzipiell zustimmen könnten? Das Vernünftige ist, was allgemein für vernünftig und wahr gehalten wird. Davon abzuweichen, ist begründungspflichtig.
Heute scheint es umgekehrt zu sein. Der Begriff der Vernunft ist erodiert. Er ist abgelöst worden durch das Gefühl der Identität. Einverständnis muss nicht mehr durch Begriffe-Wälzen und Unterscheiden hergestellt werden, sondern man weiss ja schon, wozu man gehört. «Volk» oder «Stamm» schaffen ein Gefühl der Zugehörigkeit. Ausgelöst wurde dieser Rutsch in die Selbstvergewisserung durch die Globalisierung. Da kam viel Neues, Ungewohntes und Bedrohliches. Man suchte nach einfachen Formen der Gewissheit. Ein gutes Beispiel ist das häufige Berufen auf «unsere christlichen Werte». Die muss man verteidigen, was auch immer sie sind und gegen wen auch immer. Und das, während niemand mehr in die Kirche geht.
Vernunft ist zu einer Anti-Welt geworden. Das Allgemeine heisst jetzt Mainstream und ist verdächtig, die Regierung belügt uns – ein entscheidender Umstand: denn Glaube ist wichtiger geworden als Wissen. Anstatt: Ich weiss, dass mein Wissen sich bewähren muss; herrscht: Ich glaube es fest, das reicht schon.
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